Die schnelle Entwicklung von Impfstoffen gegen COVID-19 hat zumindest etwas an Geschwindigkeit und Stärke aus der Pandemie genommen. Bei einer Impfung setzen wir unseren Körper Virusteilen aus, um unser Immunsystem auf den Virus zu trainieren. Edward Jenner, der 1796 einen Jungen mit Kuhpocken infiziert hat, um ihn von der tödlichen Pockenkrankheit zu schützen, wird für seine Entdeckung und der ersten Impfung gefeiert. Doch zu dieser genialen Idee wäre es nie gekommen ohne Lady Montagu – einer Frau in der alten Welt – und Onesimus – einem afrikanischen Sklaven aus der neuen Welt.
Um diese Geschichte zu erzählen, müssen wir Lady Mary Wortley Montagu im Jahr 1715 treffen. Lady Mary war in vielerlei Hinsicht ihrer Zeit voraus: Sie schränkte sich in ihrer Bildung nicht in dem ein, was in dieser Zeit üblich für Frauen war (zeichnen, sticken, kochen…). Sie machte sich auch nicht viel aus dem, was zu dieser Zeit von Frauen erwartet wurde. Stattdessen verbrachte sie viel Zeit in der Bibliothek ihrer Eltern und heiratete auch noch skandalös Sir Edward Wortley Montagu ohne Erlaubnis ihres Vaters.
Ihre Familie – wie viele andere Familien zu dieser Zeit – wurde wiederholt von einer tödlichen Krankheit angegriffen: den Pocken. Infizierte Leute bekamen zunächst hohes Fieber und entwickelten anschließend mit einer dicken Flüssigkeit gefüllte Beulen, die dicht an dicht die Haut und den Rachen bedeckten. 30 % der Infizierten starben – darunter auch ihr Bruder als er gerade einmal 20 Jahre alt war. Überlebende waren häufig mit Narben im Gesicht entstellt. Sie selbst bekam ein Jahr nach ihrem Bruder auch die Krankheit. In ihrem Krankenbett hörte sie wahrscheinlich von einem ihrer Doktoren zum ersten Mal von Timonis Beschreibung eines mysteriösen Brauchs im osmanischen Reich um sich vor den Pocken zu schützen.
Überraschenderweise bekam ihr Mann ein Jahr nach ihrer Krankheit eine Stelle als Botschafter im Osmanischen Reich. Zu dieser Zeit bedeutete solch eine Position lange Jahre der Trennung für Paare. Doch Lady Mary dachte gar nicht daran mit ihren Kindern zu Hause zu bleiben. Stattdessen traf sie eine für ihre Zeit sehr unübliche und mutige Entscheidung: die ganze Familie reiste zusammen nach Konstantinopel (heute Istanbul) – der Hauptstadt des osmanischen Reichs. Das osmanische Reich wurde zu dieser Zeit von Briten herablassend beäugelt: Frauen leben ein getrenntes Leben, Sklaven mussten im Haus dienen und im ganzen Reich fehlte die Entwicklung von Technologien. Die Ursache für diese „Rückstände“ wurden in der Ablehnung des Christentums und dem „barbarischen“ Islam vermutet. Auf ihrer Reise nach Konstantinopel machte sich Lady Mary jedoch ihr eigenes Bild, hielt dies in Briefen fest und verabscheute die britische Sichtweise auf den Orient. Ihrer Beobachtung nach wurden „Sklaven“ nicht anders als „Diener“ behandelt, und Frauen – auch wenn sie segregiert wurden – hatten viele Freiheiten, von denen Frauen im Westen nur träumten.
Während ihrer Zeit in Konstantinopel machte Lady Mary eine paradoxe und erstaunliche Beobachtung: alte Frauen verkauften Pocken an gesunde Menschen um sie vor der tödlichen Krankheit zu bewahren. Dabei wurde infizierte Kruste in den Arm gesunder Menschen gekratzt. Dies führt zu einer Krankheit mit milderem Verlauf als die sehr starke Erkrankung, wenn man sich über Luft infizierte. Nachdem die schwache Form der Krankheit überstanden war, sollte man ein Leben lang immun gegen die Pocken sein. Lady Mary war von dieser Methode fasziniert, sodass sie direkt ihren Sohn in Konstantinopel inokulieren ließ und sich vornahm, dieses Wissen mit nach England zu nehmen.
In England angekommen musste sie jedoch hart kämpfen, damit ihr geglaubt wurde: Zu Lady Marys Zeiten sind wir noch 150 Jahre vor der Identifizierung von Mikroorganismen als Krankheitsüberträger. Zwar wusste man, dass man nach Überstehen der Pockenkrankheit ein Leben lang immun sein wird. Einen Menschen vor einer Krankheit zu schützen, indem man ihm die Krankheit brachte, erschien jedoch sehr paradox. Lady Mary ließ zunächst ihre Tochter in Anwesenheit von Zeugen inokulieren. Etwas später warb sie für das Newgate Experiment, bei dem 6 Gefangene die Wahl hatten, von ihrer Todesstrafe frei gelassen zu werden, wenn sie sich inokulieren und dem Virus aussetzen ließen. Alle Gefangenen überlebten, was zu einem großen Medieninteresse führte. Dennoch wurde ein Kampf zwischen Pro- und Anti-Inokulatoren freigestoßen mit einer Rhetorik, die auch noch heute besteht: Pro-Inokulatoren verwendeten dabei einen kühl-sachlichen Ton und blieben wissenschaftlich, während Anti-Inokulatoren einen aufgeheizten Ton benutzten und Schauergeschichten verbreiteten. Als aufgrund der aus heutiger Sicht unsicheren Methode die ersten Menschen starben, wurde den Pro-Inokulatoren „Mord“ und „Entvölkerung“ vorgeworfen.
Zur gleichen Zeit ereignete sich in Boston eine ähnlich faszinierende Geschichte: als der puritanische Pastor Cotton Mather seinen Sklaven Onesimus fragte ob er je die Pocken gehabt hätte, antwortete dieser schlicht: „ja und nein“ und erklärte, dass in Afrika – ähnlich wie im osmanischen Reich – Kinder vor den Pocken geschützt werden, indem man sie früh mit Pocken inokuliert. Ähnlich wie Mary war Mather von dieser Methode fasziniert. Er musste jedoch noch ein paar Jahre warten bis Boston von einer Pockenepidemie heimgesucht wurde, um Zeuge der Effektivität dieser Methode zu werden. Während der Pockenepidemie erkrankte die Hälfte aller Einwohner Bostons und 15 % der Einwohner starben. Ein Freund Mathers, der Onesimus glaubte, ließ seinen Sohn und seine Sklaven inokulieren. Von den 40 inokulierten Personen starb eine Person. Bei Vergleich dieser Zahlen konnte die Effektivität dieser Methode erstmals bewiesen werden: Wäre man Bostoner zu dieser Zeit, hatte man eine 15 % Wahrscheinlichkeit an den Pocken während der Epidemie zu sterben, wenn man sich jedoch impfte lag diese Wahrscheinlichkeit nur bei 2.5%.
Doch auch Fakten und die Aussicht auf Schutz vor dem Tod konnten einen bitteren Kampf zwischen Pro- und Anti-Inokulatoren nicht vermeiden: in Amerika wurden zu dieser Zeit Krankheiten als eine wohlverdiente Strafe von Gott für die Sünden angesehen und nur Gott selbst hatte das Recht, Leben zu geben und zu nehmen. Menschen durch einen afrikanischen Ritus vor einer Krankheit zu schützen, erschien wie eine Erfindung des Teufels. Die Auseinandersetzungen führten sogar zu einem versuchten Bombenanschlag auf Mather. Cotton Mather selbst sah die Methode als Geschenk Gottes an, war aber gleichzeitig stark in der Hexenverfolgung von Salem verwickelt. Onesimus mit seiner „ja und nein“-Antwort und seinem Bericht sticht hier mit seiner Rationalität besonders heraus.
Die Entdeckungen und das Wissen von Lady Mary und Onesimus mischten sich schließlich in England. Leider folgte ein hysterisches Inokulationsjahrhundert, indem unerfahrene europäische Ärzte die Methode auf bizarre Weise veränderten: statt nur an der Oberfläche der Haut zu inokulieren, wurden tiefe Wunden herbeigeführt um zu inokulieren. Auch wurden Patienten vor der Inokulation bluten lassen. Dies kam natürlich mit ungewollten Konsequenzen. Inokulierte Menschen waren zudem kontagiös. Häufig wurden inokulierte Menschen im Gegensatz zu anderen Regionen der Erde nicht in Quarantäne gehalten, wodurch diese Methode gefährlich für nicht-inokulierte Personen wurde. Dennoch half dieses Wissen Edward Jenner im Jahre 1796 das erste Vakzin (erste richtige Impfung) zu entwickeln, welches viel sicherer als die Inokulation war. 1980 konnten aufgrund dieser Methoden die Pocken auf der gesamten Welt ausgerottet werden und so bleibt der Menschheit heute diese tödliche Krankheit erspart.
Um die wissenschaftlichen Quellen zu lesen:
Grundy I. Montagu’s variolation. Endeavour. 2000;24(1):4-7. doi: 10.1016/s0160-9327(99)01244-2. PMID: 10824437.
Thein MM, Goh LG, Phua KH. The smallpox story: from variolation to victory. Asia Pac J Public Health. 1988;2(3):203-10. doi: 10.1177/101053958800200313. PMID: 3052542.
Best M, Neuhauser D, Slavin L. “Cotton Mather, you dog, dam you! I’l inoculate you with this; with a pox to you”: smallpox inoculation, Boston, 1721. Qual Saf Health Care. 2004 Feb;13(1):82-3. doi: 10.1136/qshc.2003.008797. PMID: 14757807; PMCID: PMC1758062.
Boylston A. The origins of inoculation. J R Soc Med. 2012 Jul;105(7):309-13. doi: 10.1258/jrsm.2012.12k044. PMID: 22843649; PMCID: PMC3407399.
Vielen Dank an Anna Näger für das Redigieren und Korrekturlesen.
lieber Nils
der Artikel ist interessant. einiges wusste ich auch schon. Was mir nicht ganz klar ist ist die Tatsache, dass die inokulierten Menschen fuer andere ansteckend sind. Stimmt das tatsaechlich oder habe ich da was falsch verstanden?
LG
deine Mutter